An einem Tisch im Wohnzimmer sitzt Frau P.. Sehr konzentriert schreibt sie Namen auf ein Blatt Papier. Es sind die Namen berühmter Personen wie Schauspieler oder Musiker aber auch die von Menschen aus ihrem Umfeld. Frau P. kann schreiben, die meisten ihrer Mitbewohner:innen sind dazu nicht in der Lage.
Fällt Frau P. aber ein Vor- oder Nachname nicht ein, bricht ihre Welt zusammen. „Ramiric. Wie heißt Ramiric mit Vornamen?“, fragt sie sich laut mit angestrengtem Nachdruck. Ihr Betreuer ahnt, dass die Situation zu kippen droht. Schnell lässt er sich einen passenden Vornamen einfallen: „Diego“. „Diego“ wird von Frau P. akzeptiert, die Situation ist gerettet.
Wir befinden uns im Hans-Riegler-Haus, eine von mehreren Wohnstätten für Menschen mit Behinderungen, die GIB in Berlin-Niederschönhausen betreibt. In diesem Haus leben elf Menschen mit zum Teil starken kognitiven Einschränkungen und psychiatrischen Auffälligkeiten.
Die Bandbreite reicht von Autismus unterschiedlicher Ausprägung bis hin zu starker Intelligenzminderung und auto- oder fremdaggressivem Verhalten.
Herr B. sorgt sich, Prince (sic!) Charles heiraten zu müssen. Stündlich fürchtet er die Ankunft des Thronfolgers. Herr B. will Charles nie und nimmer heiraten. Es gibt Tage, an denen die Angst davor völlig Besitz von ihm ergreift.
Argumente, dass Charles bereits verheiratet und inzwischen auch kein Prinz mehr ist, können Herrn B. nicht beruhigen.
Die Arbeit bei GIB braucht Kreativität...
1000 und eine Idee, gepaart mit Empathie und Gespür für die Belange von Betreuten, die ihre Bedürfnisse nicht klar erkennbar exponieren können.
Die berufliche Herkunft und die Gründe, hier zu arbeiten, sind vielfältig. Ein ehemaliger Bankkaufmann und fünffacher Vater suchte eine Arbeit in der Nähe seiner Wohnung. „Es war die beste Entscheidung meines Lebens“, sagt er. Ein Heilerziehungspfleger suchte und fand eine “echte neue Herausforderung“.
Einem anderen begegneten die Betreuten auf der Straße und er fühlte sich sofort angezogen. Die dienstälteste Mitarbeiterin suchte 2002 einen Job – eigentlich als Reinigungskraft – und fand ihre Bestimmung in der Betreuung.
Beste Entscheidung meines Lebens.
G.S.: „Ich erzähl mal kurz familiär: Also meine Kindheit war zwar schön, aber man hat nie so gehört – weder von den Eltern, noch von Oma: ‚Wir haben dich lieb. Wir mögen dich’ oder sowas. Ja und die Bewohner, die sind so, so lieb. Also, wie soll ich erklären. Das war so herzlich, das hat mir so irgendwie gefehlt. Das, was ich zu Hause nicht gekriegt habe, habe ich hier bekommen. Ja. [...] Wenn man kommt, die stehen und begrüßen einen und freuen sich. Die Bewohner sind die Bewohner, die verstellen sich nicht. Und, ja, das ist irgendwie ein schönes Gefühl.“
Ein eingespieltes Team ist Voraussetzung, um diese anspruchsvolle Arbeit einer besonderen und individuell abgestimmten Betreuung zu leisten, die benötigte Hilfe, Struktur und Orientierung zu geben, ohne die das Leben der Betreuten von Krisen dominiert wäre.
Krisen, die bereits durch vermeintliche Banalitäten wie einem nicht erinnerten Namen oder durch eine tief verwurzelte Angst mit unbekanntem Ursprung, ausgelöst werden können.
Struktur und Orientierung
Geleitet wird das Hans-Riegler-Haus von G.N.. Sie war zuvor viele Jahre im Kinder- und Jugendbereich tätig. „Da musste, wer volljährig wurde, die Einrichtung verlassen. Das kann ziemlich ans Herz gehen“, sagt sie. „Das Schöne bei GIB ist dieses lebenslange Wohnrecht. Das gibt uns einerseits die Möglichkeit, sehr langfristig das Leben der Menschen gestalten zu können. Andererseits müssen wir – egal bei welcher Krise – immer eine Lösung finden. Das ist eine Herausforderung, an der wir aber auch wachsen.“
„Als ich 2022 die WG-Leitung übernommen habe, habe ich viele Mitarbeitende als müde und erschöpft erlebt. Die Zeit von Lockdown und Quarantäne saß in den Knochen. Einige hatten gekündigt, wollten kündigen oder waren langzeiterkrankt. Die Stelle der Wohngruppenleitung war unbesetzt. Da musste ich erst einmal schauen, was überhaupt noch geht. Und es ging etwas, denn die Leute hatten trotz allem Lust und wollten, dass sich Dinge verändern.“
Das Grundsetting einheitlich regeln, damit die Bewohner nicht ins Schwimmen kommen.
G.N.: „Mein erstes Zieljahr war, dass das Team wieder stabilisiert ist. Weil das Potential eines guten Teams war ja immer vorhanden. Das habe ich ja nicht mitgebracht, das hatte das Team ja schon. Und dass als nächstes immer intensiver Strukturen besprochen werden, einheitlicheres Arbeiten auch für die Betreuten, dass wirklich die Betreuten eine klare Linie haben der Strukturen. Und da geht es nicht darum, dass man Freizeitaktivitäten bestimmt oder kurze Sequenzen, die man sich mit einem Bewohner nimmt – das kann natürlich jeder individuell gestalten –, aber dass das Grund-Setting, was wir hier bieten, einheitlich geregelt ist. Damit die Bewohner nicht ins Schwimmen kommen in ihrem Tun.“
„Einheitliche Strukturen“ ist ein Begriff, der immer wieder fällt. „Betreute müssen sich auf Absprachen verlassen können“, erläutert M.K.. „Das ist bei vielen essentiell, um Krisen zu vermeiden. Es gibt hier Menschen, die verlieren sonst den Boden unter den Füßen. Deshalb müssen sich alle, die hier arbeiten, unbedingt an Vereinbarungen halten. Das ist in manchen Situationen ganz schön schwierig, aber das einzig Mögliche für die Betreuten.“
Als Team Strukturen für die Betreuten erarbeitet.
M.K.: „Das ist, finde ich, mit der wichtigste Punkt in der Teamzusammenarbeit. Das war für mich auch der schwierigste Punkt überhaupt. Dieses stillschweigend einheitliche Vorgehen in sämtlichen Prozessen. Dass man nicht abweicht, dass man nicht Sonderregelungen macht, dass man nicht gegen interne Absprachen verstößt. Gerade Frau [N.N.] ist da ein sehr gutes Beispiel. Wo man wirklich ganz, ganz streng immer bestimmte Regelungen einhalten muss."
J.F.: „Gerade bei Frau [N.N.] wirkt das mitunter auch sehr streng. Also, da hatte ich am Anfang so: ‚Uff, was ist denn da jetzt los?‘. Aber ich habe verstanden, dass es eben nicht darum geht, unsere eigenen Bedürfnisse zufrieden zu stellen, sondern es geht wirklich im Fokus um die Bewohnerin selbst. Dass wir sie halt durcheinander bringen, wenn der eine das so sagt und der andere das anders sagt. Das bringt sie komplett durcheinander. Und dann braucht man an der Stelle nicht mehr weitermachen für ‘nen Moment. Das bringt nicht mehr viel. [...] Sie steigert sich rein und fängt an, sich zu schlagen.“
G.N.: „Wir haben Kollegen, die eben ganz klar sagen: ‚Wir haben hier Strukturen erarbeitet, die müssen eingehalten werden!‘ Die dann natürlich auch ein stückweit die Kollegen mitziehen, [...] sich an die Strukturen zu halten und auch wirklich ins Gespräch gehen und sagen, wir haben das doch so besprochen und so setzen wir es bitte auch um und nicht anders.“
Wertschätzende Kommunikation wird von allen Mitarbeitenden als größte positive Veränderung der letzten Zeit gesehen. Dazu gehört, konstruktive Kritik dort einzubringen, wo sie für die Qualität der Arbeit nötig ist. „Die Wohngruppenleitung macht es uns vor. Sie lädt dazu ein“, sagt J.F.. „Und ich nehme die Einladung an. Ich fühle, dass ich sagen kann, wenn mir etwas auffällt.“
G.N. bestätigt: „Wenn es Diskrepanzen gibt in der Arbeit, der Herangehensweise mit Betreuten, suchen die Mitarbeitenden jetzt zuerst das Gespräch mit der Person, die es betrifft und nicht mehr zuerst mit mir.“
J.F.: „Ich finde auch ganz wichtig, dass es darauf ankommt, wie es gesagt wird. Also, wenn mir jemand begegnet mit: ‚Ja, du hast ja schon wieder...‘. Also diese Wortwahl natürlich und auch das Setting, wenn mir das einer zwischen Tür und Angel sagt, dann kann ich damit nicht viel anfangen. Aber wenn man sich halt ruhig zurückzieht und sagt: ‚Pass auf. Ich hab heute gemerkt, du hast heute mit Herrn [N.N.] anders geredet, als wir das gewöhnlich machen.’ Weil wir halt ‘ne gewisse Grundregelung mit jedem Bewohner haben, dann finde ich das durchaus wertvoll, wenn mir das in ’nem ruhigen Moment gesagt wird. Kann ich viel mit anfangen, bin auch dankbar dafür.“
M.K.: „Eine ganz große Änderung ist eben entstanden durch den respektvollen Umgang miteinander. Also nicht nur was Kommunikation der Kollegen anbetrifft, sondern auch, was Reaktionen von Betreuern mit den Bewohnern betrifft. Auch da hat es in der Vergangenheit sehr, sehr unterschiedliche Vorgehensweisen gerade mit problematischen Bewohnern gegeben, wo wir uns selber das Leben unnötig schwer gemacht haben.“
Die Stärken jeder Person im Team aufzugreifen und ihr so die Chance zu geben, mit ihrer Leistung glänzen und sich Respekt im Team abholen zu können, ist im Hans-Riegler-Haus nicht nur ein gut klingender Leitsatz. G.N. ist es gelungen, ihn in der Praxis umzusetzen.
M.W.: „Das Individuelle der Person zu sehen, das ist auch ein ganz anderes Arbeiten. [...] Wir sind nicht alle Heilerziehungspfleger, aber du siehst halt auch unheimlich viele Qualitäten bei vielen Leuten, die keinen Heilerziehungspfleger gemacht haben und hier wirklich mit ziemlich besonderen Leuten jeden Tag agieren können. Und ja, ‘ne Leitung ist einfach definitiv der ausschlaggebende Punkt dafür, wie das Ganze hier läuft.“
G.N.: „Also, wir haben hier Kollegen, die sind sehr strukturiert, die wissen ganz genau, die und die Sachen fallen an zu den Zeiten und die arbeiten dann den andern Kollegen zu, indem sie Listen erstellen für Kollegen, die das halt nicht so dolle auf dem Schirm haben, welche Büroarbeiten anfallen.“
M.K.: „Dann gibts andere Kollegen, wo man weiß, die machen gerne Aktivitäten mit Bewohnern, die gerne Spaziergänge machen, gerne Ausflüge, gerne BZB Tage. Machen nicht alle. Aber das ist eine relativ gute Mischung eigentlich. Also, das sind so zwei von mehreren Stärken, würde ich mal sagen, manche können ganz toll kochen. Was ich auch finde, was ‘ne Stärke ist.“
M.: „Was ist Ihre Stärke?“
M.K.: „Auf jeden Fall die Ruhe und die Ausgeglichenheit und die Geduld und dass ich niemals an die Decke gehe. Also egal, wenn C. in der Krise ist, Frau P. gleichzeitig, bleibe ich trotzdem ruhig. Ich glaube auch, dass es sich auf die Bewohner widerspiegelt.“
Gute Mischung: Aktivitäten mit Betreuten.
Das Team im Hans-Riegler-Haus hat gemeinsam eine gute Basis für die Arbeit im Sinne der Betreuten geschaffen. Trotzdem gibt es natürlich Tage, die Mitarbeitende an ihre Grenzen bringen. Zu schauen, wie geht es dem, der gerade mit mir arbeitet, ist da besonders wichtig.
Auch, wer mal eine Auszeit braucht oder einen Dienst tauschen möchte, findet fast immer ein offenes Ohr bei den Mitarbeitenden.
I.S.: „Ich war ziemlich lange krank und habe tatsächlich überlegt, was ich mache. Ob ich hier wieder zurück komme oder nicht. Und hatte dann aber mein Rückkehr-Gespräch mit der Wohngruppenleitung und der Wohnstättenleitung und habe dann einfach gespürt oder gedacht: ‚Jetzt geht das alles in die richtige Richtung‘. Also, von der Wohngruppenleitung aus. So, wie ich mir das auch immer gewünscht habe. Also gewisse Strukturen. Und schon auch, eine gewisse Strenge, aber auch total herzlich und lieb. Und da ich die Arbeit mit den Bewohnern..., die habe ich immer geliebt und die liebe ich nach wie vor. Und deswegen habe ich mich dann auch entschieden, wieder zurück zu kommen und bin auch total froh, dass ich’s getan habe. Und, wie gesagt, man merkt wirklich, dass sich hier was getan hat, also was verändert hat. Und das finde ich total schön. Das haben wir wirklich unserer Wohngruppenleitung zu verdanken.“
„Fehlermachen erlaubt“, ist ein Grundsatz der Arbeit in der Gruppe. „Aus Fehlern lernen“, klingt erst einmal gut. Aber wie läßt es sich in die Praxis übertragen? Und wie vermittle ich meinem Gegenüber Kritik, wenn ich mit deren Handeln einmal nicht übereinstimme?
„Dem Anderen und seiner Methodik vertrauen und sich zu fragen: ‚Warum macht der das jetzt so?‘“, meint Heilerziehungspfleger F.B..
F.B.: „Jeder schätzt vielleicht die Situation auch anders ein. Und ich finde, ein gutes Teamgefüge ist halt auch – oder zeichnet sich auch dadurch aus –, dass man dem anderen ein stückweit vertraut. Also, seiner Methodik vertraut und nicht eben gleich [...] sagt: ‚So, nee, so auf gar keinen Fall!‘, sondern ein stückweit vertraut und das dann im Nachhinein eventuell reflektiert. Also den Hintergrund von dem andern verstehen, weshalb er das jetzt so oder so gemacht hat. Das zeichnet meiner Meinung nach ein gutes Teamgefüge aus, wenn da dieser Austausch besteht und man von dem andern auch lernt. Also, nur weil man Fachkraft ist, heißt es ja nicht, dass man das in der Praxis eins zu eins genau so umsetzen kann. Vor allem mit unserer Klientel auch. Dass es passt."
Im Gespräch kam die Rede bisher kein einziges Mal auf Krisen der Betreuten. “Vielleicht“, vermutet M.W., „gibt es tatsächlich weniger Krisen oder sie werden anders wahrgenommen: Als zu bewältigen, nicht mehr als die große ,unschulterbare‘ Last.“
F.B.: „Dadurch, dass die Zusammenarbeit fast blind läuft und so eine Ruhe ausstrahlt, dadurch ist das Gruppenleben viel ruhiger geworden. Wenn ich überlege, vor zwei Jahren, wie ich hier angefangen habe, da war der Alltag einfach dominiert von Krisen. Da ist man teilweise von einer Krise in die nächste gegangen. Und hier nach acht Stunden raus und war einfach fix und fertig. Und mittlerweile, ja, wenn’s gut läuft, dann kann man ‘nen schönen Nachmittag haben mit den Leuten. Und wirklich – naja – ein stückweit Lebensqualität bieten. Ich meine, es soll ja ein Zuhause darstellen für die Bewohner.“
M.K.: „Das ist ein sich selbst verstärkender Effekt. Weil diese Zufriedenheit, die spiegelt sich in den Bewohnern wider und die Bewohner sind weniger krisenanfällig, was sich in unserer Zufriedenheit widerspiegelt. Was wiederum zur Folge hat, dass wir einen größeren Teamzusammenhalt haben, eine größere Kontinuität, was auch wiederum positiv für die Bewohner ist, weil sie nicht so viel Personalwechsel haben. Wir sind ja, glaube ich, die Gruppe, die die geringste Fluktuation hat. Und das ist einfach ein Effekt, wenn der erstmal ins Laufen gekommen ist, der verstärkt sich von alleine.“
Spielregeln sind nicht verhandelbar.
Strukturen erleichtern die Arbeit und minimieren Krisen, müssen aber immer wieder Diskussionen standhalten.
Teamwork ist die sichere Basis für den Raum, in dem sich Kreativität zur Lösungsfindung entfaltet.
Zurück zu Herrn B. und Prinz Charles: Ein Mitarbeiter hat inzwischen ein Porträt von Charles ausgedruckt, mit einem dicken Textmarker ein Kreuz über das Konterfei gemalt und das Bild an Herrn B.s Zimmertür geklebt. Charles ist damit auf’s Erste gebannt...
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